Pater Provinzial Josef Költringer OSFS zum Jubiläumsjahr 2022
Vor über 60 Jahren wurde ich geboren, gehöre seit 40 Jahren dem Orden der Oblaten des hl. Franz von Sales an, und war viele Jahre meines priesterlichen Lebens in Asien tätig. Unabhängig vom Ort meines seelsorglichen Dienstes wurde ich bei Gesprächen mit älteren Gläubigen immer wieder an meine eigene Kindheit erinnert, in der ich gelernt habe, dass Gebet und das Halten der Gebote die Grundlagen des kirchlichen Lebens seien. Man galt als guter Christ, wenn man seine Beziehung zu Gott in der sonntäglichen Liturgie, dem persönlichen Morgen-, Tisch- und Abendgebet pflegte und wenn die privaten Handlungen moralisch in Ordnung waren. Das katholische Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin, hat zwar nie die Bedeutung der sozialen Gerechtigkeit geleugnet; es hat mich aber auch nie erinnert, dass ein Engagement für die Armen ebenso viel wert sein kann wie ein Gebet und das Halten der zehn Gebote.
Diese Einstellung hat sich in der Lehre der Kirche und in der Praxis der Gemeinden inzwischen verändert. Die wichtigste Entwicklung innerhalb des Christentums in den letzten Jahrzehnten war vielleicht gar nicht der Wandel, den das Zweite Vatikanische Konzil mit sich brachte, sondern das (Wieder-) Auftauchen der Idee, dass es ohne soziale Gerechtigkeit und ohne tatkräftige Nächstenliebe keine Liebe zu Gott geben kann. Vor allem Befreiungstheologen aus Südamerika und Verfechter der sozialen Gerechtigkeit in unserer eigenen Kultur, bis hin zu Papst Franziskus, haben dazu beigetragen, dass soziale Gerechtigkeit unabdingbar ist, und wir deshalb gar nicht vor die Wahl gestellt werden, ob wir uns engagieren sollen oder nicht. So wie auch das Gebet und das Halten der Gebote nicht optional sind.
Ein Christ zu sein bedeutet bis heute, mit Gott im Gespräch zu bleiben, ein Leben zu führen, das sich an den Geboten und der Lehre der Bibel orientiert und – drittens – einen besorgten und empathischen Blick auf die gesamte Menschheit und Schöpfung zu werfen.
Das Jubiläumsjahr der heiligen Freunde, Franz von Sales und Johanna Franziska von Chantal, weisen uns allerdings auf noch etwas hin, das schon lange hinlänglich bekannt ist, aber bis heute nicht den Stellenwert im konkreten kirchlichen Leben einnimmt, den es verdient hätte. Gemeint sind die (geistliche) Freundschaft und das ehrliche, offene Gespräch über meinen Glauben und meine Zweifel. Die meisten von uns haben keine Scheu über politische Themen, über das Klima, die Pandemie und über Fußball endlos lange Dialoge zu führen, aber wir tun uns alle schwer, über unsere religiösen Motive, über unsere Gottesbilder, über unsere Glaubenspraxis und über unsere Zweifel ehrlich und engagiert zu reden. In diesem Bereich haben wir schon vor langer Zeit unsere Sprache verloren und sind stumm geworden. Und wegen unserer Sprachlosigkeit bleibt auch seit Jahrzehnten jungen Generationen die Welt des christlichen Glaubens und der kirchlichen Praxis verschlossen.
Franz von Sales und Johanna Franziska von Chantal waren großartige Freunde und Meister des interessierten, tiefen Gespräches. Sie waren sich wohl bewusst, dass ohne eine ehrliche Kommunikation mit einem Freund und Begleiter, Wachstum im zwischenmenschlichen und religiösen Leben nicht möglich ist. Sie wussten auch, dass wir ohne die mildernde, begleitende, fürsorgende, ermahnende Stimme eines Freundes unweigerlich die notwendige Balance im Leben verlieren. Liebevolle, herausfordernde Freunde sind für das christliche Leben ebenso wichtig wie das Gebet und die soziale Gerechtigkeit. Wer die Freundschaft und die Kommunikation vernachlässigt, leistet dem Egoismus und dem Atheismus Vorschub.
Ein gesundes christliches Leben ruht demnach zumindest auf vier Säulen: meine persönliche Beziehung zu Gott, mein moralisch anspruchsvoller persönlicher Lebensstil, mein Einsatz für eine gerechtere Welt und eine (geistliche) intensive Freundschaft zu einem oder mehreren Menschen.
P. Josef Költringer OSFS, Provinzial der Deutschsprachigen Provinz der Oblaten des heiligen Franz von Sales